Kapitel-1-Vorabend

Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.

Das Stahlwerk, Kapitel 1: Der Vorabend

Es war kurz vor acht Uhr abends, als sie ihn abholten. Er lag auf seiner harten Holzpritsche in der Häftlingsbaracke, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Er war erschöpft, müde und hungrig.

Zwei Männer betraten die Baracke, einer in Wehrmachtsuniform, der andere mit schwarzem Ledermantel, Schirmmütze, in der Hand einen Gehstock. Der Soldat war noch jung, vielleicht siebzehn Jahre, über seiner Schulter hing ein Karabiner. Der mit dem Gehstock war deutlich älter, etwa Mitte fünfzig, groß, stämmig. An seinem Arm trug er eine Binde: WS, Werkschutz.

„Kruppa, Jarek“, rief der Werkschutzmann in das Halbdunkel der Baracke. Der Ausruf hatte einen fragenden Unterton, als sei er sich nicht sicher, den gesuchten Kruppa hier zu finden. Alle Gespräche in der Baracke verstummten. Stille.

Jarek blieb das Herz stehen. Er spürte, wie ein Druck sich auf seine Brust legte, Angst ihn erfasste. Würde die SS jetzt beenden, was vor zwei Jahren in Warschau begann und ihn in diese Hölle gebracht hatte? Kamen sie, um ihn zu erschießen?

„Kruppa, Jarek, vortreten!“ Der Ausruf war jetzt deutlich lauter und energischer. Jarek richtete sich auf, hob die Hand. „Hier!“, meldete er sich. Der mit dem Ledermantel sah ihn an: „Los, ziehen Sie sich an, mitkommen.“ Jarek warf seine gestreifte Häftlingsjacke über, setzte seine Mütze auf, seine Hände zitterten dabei. In der Baracke lebten 120 Männer, alle Blicke richteten sich auf ihn. Keiner sprach. Er sah niemanden an, eilte zur Tür.

Vor der Baracke stand ein dunkler, großer Mercedes. Am Steuer ein Fahrer in Uniform. Jarek stieg hinten ein, neben ihm nahm der junge Soldat Platz. Jarek sah ihm kurz ins Gesicht. Er konnte einen Bartflaum sehen, Pickel, einen unsicheren Blick. Wie das Mitglied eines Erschießungskommandos sah der Junge nicht aus. Der Wagen fuhr an, der Ledermantel auf dem Beifahrersitz drehte sich zu ihm um: „Die Werksleitung möchte sich mit Ihnen unterhalten, Herr Doktor von Kessel persönlich.“ Er zog dabei die Augenbrauen hoch, nickte bedächtig. „Mein Name ist Schöppke, ich bin der Leiter vom Werkschutz.“ Er sah Jarek in die Augen: „Was haben Sie denn angestellt, dass die Werksleitung sich mit Ihnen befasst?“ Schöppke lächelte bei dieser Frage, zeigte ein paar große, vom Rauchen vergilbte Zähne. Seine Stimme war tief, angenehm.

Auch Schöppke machte nicht den Eindruck, als ob er Jarek Böses wollte. Er war entspannt, wirkte gelassen. Sein Gesicht war fleischig, er hatte dicke Lippen, aber sein Blick und seine Mimik ließen auf eine gewisse Intelligenz schließen. Beim Gang von der Baracke zum Auto konnte Jarek sehen, dass er das linke Bein leicht nachzog, den Stock jedoch nicht benutzte.

Jarek entspannte sich langsam. Der Druck auf der Brust nahm ab, er konnte wieder atmen. Was immer die Werksleitung von ihm wollte, er wusste es nicht. Er sah Schöppke an, räusperte sich: „Keine Ahnung. Ich bin hier seit zwei Jahren inhaftiert, arbeite als Übersetzer, Dolmetscher, und ich erstelle Lieferpapiere.“ Er blickte nach unten, schüttelte den Kopf. „Ich mache meine Arbeit, will keinen Ärger.“ Jarek war unsicher. Mit der Verhaftung und Deportation war viel seines einstigen Selbstvertrauens verloren gegangen.

Der Wagen hatte die unbefestigte Straße vor der Baracke verlassen. Sie fuhren jetzt durch dunkle Straßen, fast ohne Beleuchtung. Auch die Scheinwerfer des Wagens waren verdunkelt, nur zwei schmale Schlitze beleuchteten den Fahrweg.

Das Stahlwerk hatte die Ausmaße einer mittelgroßen Stadt. Es gab zwei Bahnhöfe, fast zweihundert Kilometer Straße, ein Kraftwerk, ein Wasserwerk.

An der Westseite gab es einen Kanal, an dem Frachter Eisenerz und Koks anlieferten, Stahl an Bord nahmen.

Rechts und links der Straße erstreckten sich riesige Hallen, einige mehrere hundert Meter lang. Überall dampfte, qualmte und rauchte es, dicke Rohre und Kabelkanäle verliefen zwischen den Hallen. Im Westen des Stahlwerks war bei Nacht ein rotes Leuchten zu sehen, hier lagen die Hochöfen, hier wurde der Stahl gekocht. Acht riesige Schornsteine rauchten unentwegt, verdreckten die umliegenden Ortschaften mit Ruß und Staub. Der Stahl wurde in Gießereien und Walzstraßen weiterverarbeitet, per Zug an Rüstungsbetriebe ausgeliefert. Rund um die Uhr arbeiteten bis zu zwanzigtausend Menschen im Stahlwerk.

Vom ersten Tag an war Jarek vom Stahlwerk fasziniert, auch wenn es sein Gefängnis war. Das Stahlwerk glich einer riesigen Maschine, in deren Inneren man arbeitete. Man wurde Teil der Maschine, verschmolz mit ihr. Das Stahlwerk hatte seinen eigenen Geruch, seinen eigenen Geschmack. Die dem Werk eigene Geräuschkulisse lag Tag und Nacht über dem Gebiet und war noch in vielen Kilometern Entfernung zu hören.

Bei Tag war das Stahlwerk grau, dreckig, staubig. Überall sah man rostiges Metall, Schlacke, Halden von Erz und Koks. Die Hallen bestanden aus dunklen Ziegeln oder waren mit schwarzen Eisenplatten verkleidet.

Die Menschen, die sich außerhalb der Hallen bewegten, trugen verdreckte dunkelblaue oder schwarzgraue Arbeitskleidung. Die Gesichter oft verrußt, dunkelbraune Helme aus Bakelit auf den Köpfen. Wessen Schicht zu Ende war, der ging oft gebeugt, müde.

Bei Nacht wurde das Stahlwerk zur unheimlichen, gespenstischen Kulisse. Wegen der Luftangriffe waren die meisten Lichtquellen und Fenster verdunkelt. Schwarz ragten die Hallen in den Himmel. Kaum jemand war zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Zwischen den unbeleuchteten Hallen gab es zwar Wege, es war jedoch gefährlich, diese in der Dunkelheit zu benutzen. Überall lag scharfkantiger Schrott, lagerten Bleche, Maschinenteile. Dazwischen gab es Lüftungsschächte, Kellertreppen, Baugruben. Nachts war es abseits der Straßen lebensgefährlich.

Jarek blickte aus dem Fenster, sah das rote Leuchten am Nachthimmel. Abstich, jetzt wurde das Roheisen aus dem Hochofen gelassen, Funken spritzten meterhoch. Männer mit Hitzeschutzanzügen und Visieren vor den Gesichtern standen im roten Rauch und kontrollierten den Ablauf.

Der Wagen war kein gewöhnliches Auto. Es war ein Mercedes der Luxusklasse, wahrscheinlich das Auto des Werksleiters. Leder, Holz, verchromte Zierleisten. Es musste einen Grund geben, dass sie ihn mit diesem Wagen abholten, nicht mit einem herkömmlichen Pkw. Nein, zur Hinrichtung hätten sie keinen Mercedes mit Fahrer geschickt. Jarek fiel ein, dass er seit zwei Jahren kein Auto mehr gefahren war. Die letzte Fahrt war in einem Lkw gewesen, bewacht von vier SS-Männern, vom Amtsgericht Warschau zum Güterbahnhof. Sechs Tage später kam er im Stahlwerk Duisburg an.

Nach zehn Minuten war die Fahrt zu Ende. Der Wagen stoppte vor einem großen, hässlichen Gebäude, das eher wie ein Bunker aussah als wie eine Hauptverwaltung. Schöppke stieg aus, öffnete ihm die Tür. „Da sind wir, Herr Kruppa. Endstation.“ Endstation, das wollte Jarek nicht hoffen.

Schöppke und Jarek gingen vom Parkplatz zum Eingang. Vor den schweren, großen Toren aus Metall standen zwei bewaffnete Wehrmachtssoldaten. Es waren keine unrasierten Jünglinge. Sie wirkten deutlich entschlossener und bedrohlicher. Sie kannten Schöppke, nickten kurz, ließen die beiden Männer ungehindert passieren. Jarek, in seinem Häftlingsanzug, schien die beiden nicht zu interessieren. Sie würdigten ihn keines Blickes.

Die Eingangshalle wirkte wesentlich nobler als der Außenbereich. Der Fußboden aus Marmor, Leuchter aus Messing, Tische und Stühle aus edlen Hölzern. Die Halle sah eher aus wie eine Hotellobby, nicht wie ein Verwaltungsbau. Hier wurde scheinbar vor dem Krieg noch richtig Geld verdient.

Schöppke und Jarek stiegen gemeinsam in eine Paternosterkabine. Wie in Zeitlupe bewegte sich die Kabine nach oben. Schöppke öffnete seinen Mantel, rückte darunter Jackett, Weste und Krawatte zurecht. Er zog eine goldene Taschenuhr hervor, acht Uhr fünfzehn. Er nahm die Mütze ab, strich sich die Haare glatt. Sie waren zu lang, strähnig, wirkten ungepflegt. Er war wohl aus Zeitmangel schon länger nicht mehr beim Frisör gewesen, dachte Jarek.

Schöppke blickte Jarek ernst an, nickte. „Keine Ahnung, warum Sie hier sind, was gleich passiert“, sagte er leise zu ihm. „Aber ich wette mit Ihnen, dass Sie ab morgen keinen Häftlingsanzug mehr tragen.“ Wieder nickte er, zog die Augenbrauen hoch, beugte sich näher zu Jarek. „Warum Doktor von Kessel einen Übersetzer benötigt, das erschließt sich mir momentan noch nicht. Aber, er ist überaus intelligent. Er denkt stets voraus, handelt immer sehr besonnen.“ Seine Stimme wurde noch leiser. „Was immer er mit Ihnen vorhat, es wird nicht zu Ihrem Schaden sein.“ Er richtete sich wieder auf, drückte sein Kreuz durch. „Ich arbeite seit zwanzig Jahren für ihn, er hat mich nie enttäuscht.“ Warum machte Schöppke Werbung für von Kessel? Jarek hatte das Gefühl, Schöppke wusste mehr, als er vorgab.

Der Paternoster schlich unendlich langsam durch die Stockwerke nach oben. Jarek sah lange, düstere, leere Gänge. Die Verwaltung war in der Nachtschicht nicht besetzt.

Schließlich kamen sie oben an, Schöppke und Jarek stiegen aus. Der Paternoster stieg auf, drehte weiter seine langsamen Runden.

Das Büro von Doktor von Kessel lag am Ende des Ganges. Wortlos gingen sie nebeneinander den Gang entlang. Die Angst war gewichen, aber Jarek war angespannt. Der gebohnerte Linoleumboden quietschte unangenehm laut unter Schöppkes Sohlen.

Vor der Bürotür saß ebenfalls ein bewaffneter Wehrmachtssoldat. Auch er kannte Schöppke. Die beiden nickten sich kurz zu. Der Soldat stand auf, klopfte an die große, hölzerne Tür, steckte den Kopf hinein. „Herr Doktor, Schöppke und der Pole sind jetzt da.“ Der Soldat drehte sich um: „Meine Herren, Sie können eintreten.“

Der Raum war imposant, etwa sechzig Quadratmeter groß, die Decken mindestens fünf Meter hoch. Parkettfußboden, dicke Teppiche. Vier große Art-Deco-Leuchter hingen von der Decke herab, tauchten den Raum in ein angenehmes, warmes Licht. Die Fenster wurden durch lange, dunkelrote Samtvorhänge verdeckt, vor denen ein goldgelbes Sofa stand.

An einer Wand ein Kamin, in dem ein Feuer brannte und vor dem ein flacher Tisch nebst Sesseln stand. Etwas entfernt davon ein zweiter, größerer Besprechungstisch. Auf dem Tisch eine Cognacflasche, mehrere Gläser. In einer Ecke stand ein Flügel, schwarz, riesig. An den Wänden geschmackvolle, moderne Bilder. Jarek glaubte, darunter einen Chagall zu erkennen. Jarek bemerkte weder Hakenkreuzfahne noch Hitler-Porträt. Ein großer Nationalsozialist schien von Kessel nicht zu sein.

Dem Eingang gegenüber stand ein wuchtiger, dunkelbrauner Schreibtisch, auf dem zwei grüne Schreibtischlampen für ausreichend Licht sorgten. Dahinter saß ein Mann, Doktor Hermann von Kessel, der Leiter des Stahlwerks. Von Kessel erhob sich, kam langsam auf sie zu. „Guten Abend, meine Herren, nehmen Sie Platz.“ Er zeigte mit der Hand auf den größeren Besprechungstisch. Er kam näher, reichte jedoch weder Schöppke noch Jarek die Hand zur Begrüßung. Schöppke hatte scheinbar nicht damit gerechnet, an dem Gespräch teilzunehmen. Er sah von Kessel fragend an, dieser erwiderte den Blick und antwortete: „Ja, ja, auch Sie, Schöppke.“

Der Leiter des Stahlwerks war eine beeindruckende Erscheinung. Mitte fünfzig, knapp einsneunzig groß, schlank, tadelloser, dunkelblauer Maßanzug. Er hatte ein längliches, markantes Gesicht mit einem Grübchen am Kinn. Dazu eine hohe Stirn mit tiefen Geheimratsecken. Jarek bemerkte eine leichte Sonnenbräune, für Mitte November ungewöhnlich.

„Kann ich ihnen etwas zu trinken anbieten, einen guten, französischen Cognac vielleicht?“ Er sah erst Schöppke an, der verneinte, dann Jarek. „Ich habe seit zwei Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken“, schüttelte Jarek den Kopf. „Sie wollen doch nicht, dass ich hier zusammenbreche, oder?“ Von Kessel lächelte. „Ich kann Ihnen auch gern ein Glas Soda anbieten, kein Problem.“

Sie saßen zusammen am Tisch, es herrschte kurzzeitig ein unangenehmes Schweigen. Von Kessel musterte Jarek ausgiebig. „Wie geht es Ihnen, Herr Kruppa?“, fragte er.

Jarek antwortete, ohne lange zu überlegen: „Ich bin seit zwei Jahren Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter. Was denken Sie, wie es mir geht?“ Er wollte von Kessel nicht provozieren, fand die Frage jedoch unpassend.

Von Kessel lächelte wieder, ihm schien die ehrliche Antwort zu gefallen. „Entschuldigen Sie, es war nicht so gemeint. Natürlich bin ich mir Ihrer Lage bewusst, Herr Kruppa.“ Er beugte sich nach vorn, stellte die Ellenbogen auf den Tisch, stützte seinen Kopf auf die Fäuste. „Mich interessiert vielmehr, wie Sie sich jetzt im Moment fühlen, und ob Sie bereit für eine außergewöhnliche Aufgabe sind, Herr Kruppa.“ Er sah Jarek an, beugte sich noch etwas weiter nach vorn. „Eine Aufgabe, die Ihr Leben, so wie es jetzt ist, beenden kann.“ Jarek antwortete nicht, erwiderte den Blick, wartete auf weitere Informationen.

Von Kessel lehnte sich zurück, zog ein goldenes Zigarettenetui aus dem Jackett, zündete sich eine Zigarette an. Er blies den Rauch genussvoll zur Decke. Das aufgeklappte Etui ließ er auf dem Tisch liegen, benutzte den Deckel als Aschenbecher.

„Sie sind Jarek Kruppa, zweiundvierzig Jahre alt, Witwer.“ Von Kessel sah ihn an. „Ihr Vater war Pole, Mathematikprofessor, Ihre Mutter war Deutsche, eine überaus erfolgreiche Chemikerin.“ Von Kessel nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch wieder zur Decke. „Ihre Frau und ihre vierjährige Tochter kamen 1935 bei einem Autounfall ums Leben.“ Jarek reagierte nicht, hörte weiter zu. „Sie selbst haben nach dem Abitur sechs Jahre in der Polnischen Armee gedient, unter anderem als Nahkampf-Ausbilder. Danach sind Sie zur Warschauer Polizei gegangen.“ Schöppke, bis hierhin fast regungslos, hob die Augenbrauen. „Die Armee wollte Sie eigentlich nicht gehen lassen, denn sie sprechen ja fließend fünf Sprachen, richtig?“ Jarek antwortete: „Ja, ich spreche Polnisch, Russisch, Deutsch, Englisch und Französisch. Wer zweisprachig aufwächst, der lernt auch andere Sprachen schnell. Mein Vater konnte zudem sehr gut Englisch, meine Mutter perfekt Französisch.“

Von Kessel lächelte: „Nicht so bescheiden, Herr Kruppa.“ Er lehnte sich wieder zurück. „Bei der Polizei haben Sie kurz nach der Ausbildung bei der Abteilung für Schwerverbrechen angefangen, richtig?“ Jarek nickte nur langsam. „Und hier haben Sie sich sehr schnell einen guten Ruf gemacht. Ob Mord, Vergewaltigung, Raubüberfall – der Kruppa galt als harter Hund, dem kein Fall zu schwer ist.“ Von Kessel nahm noch einen Zug, setzte seine Ausführungen fort: „Sie galten als gerissen, ausdauernd, intelligent. Ihre Methoden oft unkonventionell, Ihre Verhöre oft brutal. Ihre Zeit als Nahkampf-Ausbilder kam Ihnen da wohl häufig zupasse?“ Von Kessel blickte Jarek an, neigte fragend den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das alles aus meiner Akte haben“, antwortete Jarek trocken.

„Im Jahr Ihrer Verhaftung und Deportation zählten Sie zu den besten Kriminalpolizisten Polens. Keiner hat mehr Morde aufgeklärt, keiner mehr Schwerverbrecher hinter Gitter gebracht als der Kruppa.“ Schöppke blickte von der Seite erstaunt auf Jarek, konnte nicht glauben, was er da hörte. Von Kessel nahm noch einen tiefen Zug, blies den Rauch erneut zur Decke, drückte anschließend die Kippe aus. Er ließ sich Zeit. „Aber dann haben Sie den Zuhälter ermordet. Was war denn da mit Ihnen los?“

Mit der Frage hatte Jarek nicht gerechnet. Er dachte an die Ereignisse von damals zurück. 1939 war in Warschau die Leiche einer jungen Frau gefunden worden. Die Leiche war nackt, sie wies Spuren von massiver Gewalt auf. Das Gesicht, der Oberkörper, der Bauch, alles war von Blutergüssen, Prellungen und Quetschungen übersäht. Das Gesicht war zertrümmert, Jochbein und Kiefer waren gebrochen. Es gab mehrere Rippenbrüche, eine der gebrochenen Rippen war ins Herz eingedrungen, was die Todesursache gewesen war. Der Gerichtsmediziner ging davon aus, dass der Täter kein Schlaginstrument benutzt hatte, sondern die bloßen Fäuste, eventuell mit Handschuhen.

Eine Identifizierung der entstellten Leiche erwies sich als unmöglich. Allerdings hatte die Frau eine Tätowierung auf der rechten Hüfte, einen kleinen blauen Kolibri. Tätowierungen waren extrem ungewöhnlich, kamen ausschließlich bei Seeleuten, Häftlingen und im Rotlichtmilieu vor. Kruppa hatte seine Spur. Prostitution war in Polen zwar offiziell verboten, wurde in unauffällig geführten Häusern jedoch geduldet – auch unter der deutschen Besatzung.

Er hörte sich um. Bei den Mädchen, die er kannte, und auch bei den Kollegen auf dem Revier. Der Rotlichtbezirk von Warschau war überschaubar, und so dauerte es nicht lange, bis er einen Hinweis bekam. Ein Mädchen vermisste seine Freundin, Zofia Kowalski. Größe, Gewicht und Haarfarbe stimmten – und auch die Tätowierung.

Der Lude von Zofia Kowalski war ein gewisser Lukasz Danowski. Er war bekannt dafür, dass er die Freier beklaute, während diese mit den Mädchen im Bett waren. Gewalttaten waren von ihm nicht bekannt. Er galt im Milieu eher als einer, der seine Mädchen mit Lügen und Versprechungen bei der Stange hielt.

Jarek ging davon aus, dass ein Freier das Mädchen ermordet hatte. Und da die Freier die Mädchen nicht selbst ansprachen und bezahlten, sondern zunächst den Luden, musste Danowski den Mörder kennen.

Jarek lockte Danowski in eine Falle, in ein abgelegenes Haus am Stadtrand. Hier konnte er den Luden in Ruhe vernehmen. Er hielt nichts davon, Kriminelle mit Samthandschuhen anzufassen. Er wusste, wie Zofia gestorben war, hatte ihre Leiche mit eigenen Augen gesehen. Danowski war zwar nicht der Mörder, aber er deckte ihn. Danowski konnte von ihm keine Gnade erwarten.

Kruppa setzte seine Fäuste gekonnt ein. Es dauerte jedoch eine halbe Stunde, bis Danowski mit dem Namen herausrückte. Der letzte Freier war ein gewisser Josef Huber, ein deutscher SS-Soldat.

Huber war nicht bei der kämpfenden Truppe, er war Fahrer. Sein Chef war der SS-Sturmbannführer Horst Brandl. Brandl war seit der Besetzung Polens in Warschau, er galt als eiskalter Nazi. Besonders seine Maßnahmen gegen Mitglieder des polnischen Widerstands in Warschau hatten ihm den Ruf eines Sadisten eingebracht.

Jarek wusste, dass es unmöglich war, einen SS-Offizier in Polen vor Gericht zu bringen. Schon bei einem einfachen Wehrmachtssoldaten wäre die Sache schwierig gewesen. Dennoch ermittelte er weiter. Brandl und Huber kamen beide aus München. Über Umwege zog Jarek Erkundigungen bei der Münchner Polizei ein. Gegen Brandl war vor dem Krieg ermittelt worden. Versuchte Vergewaltigung einer Sechzehnjährigen, einhergehend mit schwerer Körperverletzung. Vor Gericht zog das Mädchen seine Aussage zurück, die Klage wurde mangels Beweisen fallen gelassen.

Jarek war sich sicher: Huber hatte das Mädchen organisiert, Brandl war der Täter. Brandl die Tat nachzuweisen war schier unmöglich. Jarek beschloss also, die Sache zunächst ruhen zu lassen. Vielleicht ergab sich irgendwann die Möglichkeit, einem Vorgesetzten Brandls die Akte zukommen zu lassen und ihn so der Gerechtigkeit zuzuführen.

Als er abends nach Hause kam, warteten sie bereits in seiner Wohnung auf ihn. Vier SS-Männer, zwei Wehrmachtssoldaten. In seiner Wohnung wurde eine Druckerpresse gefunden, angeblich sollte er kommunistische Propaganda verbreitet haben.

Jarek überlegte, wer seine Ermittlungen verraten haben könnte, eventuell die Münchener Polizei? Später kam heraus: Es war Danowski. Er hatte sich der SS anvertraut, darauf gehofft, dass man ihm für seine Kooperation Schutz gewährte. Doch er täuschte sich, die SS liquidierte ihn. Später wurde auch der Tod Danowskis Jarek zur Last gelegt. Angeblich waren seine Verhörmethoden schuld am Tod des Luden.

Er wurde wegen Hochverrats und Totschlag angeklagt. Der Staatsanwalt beantragte die Todesstrafe. Jareks Vorgesetzte, von seiner Unschuld überzeugt, ließen hinter den Kulissen ihre Beziehungen spielen. Mit Erfolg. Jarek wurde zu fünfzehn Jahren Arbeitslager verurteilt.

„Ich habe niemanden ermordet“, antwortete Jarek auf die Frage von Kessels. „Wenn Sie so gut informiert sind, wie es scheint, dann sollten Sie das eigentlich wissen.“ Er sah erst von Kessel, dann Schöppke an. „Die SS hat mir den Mord untergeschoben. Sie war es, die Danowski ermordet hat!“ Er war erregt, seit seiner Verurteilung hatte er mit niemandem über die Vorgänge in Warschau gesprochen.

„Bitte, regen Sie sich nicht auf“, beruhigte ihn von Kessel. „Ich weiß, dass Sie den Mord nicht begangen haben.“ Sein Blick wanderte langsam von Jarek zu Schöppke. „Noch bevor Herr Kruppa hier eingetroffen ist, nahmen seine Freunde aus Warschau Kontakt zu mir auf.“ Er lächelte verschmitzt, wie jemand, der ein gut gehütetes Geheimnis preisgab. „Ich bin seit Langem über die Vorgänge in Warschau informiert.“

An Schöppke gewandt sagte er, ohne Details preis zu geben „Herr Kruppa hat seine Nase zu tief in die Angelegenheiten der SS gesteckt.“ Schöppke sah Jarek eindringlich an, lehnte sich zurück. „Da brat mir einer einen Storch. Der beste Kriminalkommissar Polens wird von der SS in ein Deutsches Arbeitslager gesteckt. Und wir lassen ihn Hilfsarbeiten ausführen. Was für eine Verschwendung.“ Er zog die Augenbrauen hoch, schüttelte den Kopf.

Jarek war erstaunt. Er hatte nicht gewusst, dass seine Freunde in Polen so gute Beziehungen hatten. Aber rückblickend wurde ihm jetzt einiges klar. Sein Einsatz als Übersetzer und Dolmetscher war kein Zufall gewesen. Von Kessel hatte wohl von Anfang an seine schützende Hand über ihn gehalten.

„Richtig. Der beste Kriminalkommissar Polens. Womit wir beim Thema sind, Herr Kruppa.“ Von Kessel lehnte sich zurück, zog das Zigarettenetui zu sich, zündete sich eine Zigarette an. „In den vergangenen sechs Monaten hat es zehn Morde in meinem Stahlwerk gegeben.“ Er nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch durch die Nase wieder aus. „Zuerst wurde ein Waschkauenwärter erwürgt. Vier Wochen später wurde einem Schlosser in der Umkleide das Genick gebrochen.“ Von Kessel blickte ins Leere, überlegte kurz. „Weitere vier Wochen später der nächste Mord. Einem Schweißer wurde mit einem Schraubenschlüssel der Schädel eingeschlagen. Der Mann saß gerade in einem Pausenraum und trank Kaffee.“

Von Kessel sah Jarek an. „Bis dahin konnten wir die Sache noch gut unter der Decke halten. Aber alle drei Männer kamen aus Duisburg. Und so etwas spricht sich dann doch herum in der Stadt.“ Er verzog sein Gesicht, so, als ob ihm die Tatsache, dass über sein Stahlwerk schlecht geredet wurde, Schmerzen bereitete.

„Dann wurde es blutig. Keine zwei Wochen nach dem Schweißer erwischte es einen Elektriker, morgens um halb sechs. Der Täter stach ihm erst in den Rücken, schnitt ihm dann die Kehle durch. Das Ganze kurz vor dem Schichtwechsel, direkt vor der Werkstatt.“ Von Kessel schüttelte den Kopf. „Seine Kollegen fanden den Toten. Die Sache machte die Runde wie ein Lauffeuer.“ Er sah Schöppke an. „Nummer fünf war einer von Schöppkes Männern.“

Jarek blickte zu Schöppke, der sich zwischenzeitlich einen Cognac eingeschenkt hatte. „Heinz Wittek war schon in Rente, er war über siebzig. Aber da alle einsatzfähigen Männer an die Front geschickt werden, müssen wir beim Werkschutz auf Rentner und Kriegsversehrte zurückgreifen.“ Schöppke drehte das Cognacglas zwischen den Fingern, blickte in das Glas: „Wittek erwischte es hinten am Wasserturm, ebenfalls in der Nachtschicht. Der Mörder rammte ihm eine Brechstange in den Bauch. So ließ er ihn liegen. Hat wohl ein bisschen gedauert, bis er dann tot war.“ Er hob das Glas, so als ob er auf den Verstorbenen anstoßen wollte, trank einen Schluck.

Von Kessel hatte zwischenzeitlich eine Karaffe Wasser von seinem Schreibtisch geholt, schenkte Jarek und sich selbst ein Glas ein. Er sprach im Stehen weiter. „Nummer sechs wurde eine Woche nach Wittek ermordet. Waldemar Botzki, ein Zwangsarbeiter, Pole, genau wie Sie. Er arbeitete in der Küche von Kantine vier. Der Mörder schlug ihm mit einem Hammer den Schädel ein. Genauer gesagt, er schlug ihm den Schädel zu Brei. Er muss wohl so zehnmal zugeschlagen haben. Und das am helllichten Tage, so um halb fünf.“

Schöppke übernahm wieder. „Spätestens jetzt war klar, dass wir es mit einem Serientäter zu tun haben. Aber die Duisburger Polizei hat das gleiche Problem wie wir. Alle guten Männer wurden eingezogen, die arbeiten quasi mit Notbesetzung. Der Kommissar von denen hat dann auch die tolle Idee gehabt, es könnte sich um einen englischen Spion handeln, der hier Sabotage betreibt. So ein Schwachsinn!“ Schöppke nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Ein Saboteur würde wohl keine Hilfsarbeiter oder Kriegsgefangenen ermorden, sondern eher Führungskräfte. Außerdem wäre es viel effektiver, Maschinen oder die Energieversorgung zu stören, ein Feuer zu legen.“

Von Kessel, der sich ein wenig vom Tisch entfernt hatte und den vermeintlichen Chagall betrachtete, sprach in Richtung des Bildes. „Dennoch hat die Saboteur-Theorie ihre Anhänger gefunden. Tatsächlich rumort es in der Belegschaft, in entlegenen Werksteilen haben die Arbeiter nachts Angst. Sogar die Werkschutz-Männer gehen nachts nur noch zu zweit auf Streife. Und seit den Morden stehen unten und vor meinem Büro rund um die Uhr bewaffnete Soldaten. Das gab es früher nicht.“

Er kehrte zum Tisch zurück, setzte sich wieder an seinen Platz. „Nummer sieben war eine ganz unangenehme Sache. Eine Putzfrau, Henrietta Ackermann, wurde gegen elf Uhr abends in einer Toilette rücklings mit einem Strick erwürgt. Der Täter verging sich anschließend an der Toten. Man fand sie halb bekleidet über ein Waschbecken gelegt.“

Jarek war voll konzentriert. Er nahm alle Details auf, hatte sich mit Fragen bisher zurückgehalten. „Lagen die Tatorte beieinander oder über das Stahlwerk verteilt?“ Schöppke antwortete: „Betrachtet man alle zehn Tatorte, dann lässt sich keine örtliche Häufung feststellen. Der Täter schlägt überall zu. Was auffällt, er mordet überwiegend nachts. Wir denken, es ist ein Arbeiter des Stahlwerks, der hier sein Unwesen treibt.“

Jarek dachte nach. Was ihm auffiel, war, dass der Täter brutaler wurde. Die ersten Opfer wurden noch ohne Blutvergießen getötet. Die letzten hingegen verstümmelt, sexuell missbraucht. Nein, das war kein Saboteur, das war ein Psychopath.

Von Kessel übernahm wieder. „Nummer acht und neun wurden kurz nacheinander getötet. Der Maschinenführer Harald Wessler wurde von hinten erstochen, im Führerstand seiner Anlage. Sein Kollege Eugen Bangemann, der zwei Stunden zu früh zur Nachtschicht kam, überraschte den Mörder wohl. Es kam zu einem Handgemenge, Bangemann hatte Schnittwunden an beiden Händen. Dann erhielt mehrere Stiche in die Brust und in den Hals.“ Er nahm einen großen Schluck aus dem Wasserglas, blickte zu Jarek. „Wir brauchten zwei Tage, um den Führerstand vom Blut zu reinigen. Keiner wollte da arbeiten, solange man die Spuren an den Wänden sah und das Blut riechen konnte. Verständlich.“

Von Kessel machte eine kurze Pause, fuhr fort. „Nummer zehn ist gerade einmal zwei Tage her. Wir konnten das bisher geheim halten. Es erwischte wieder einen Waschkauenwärter, einen Kriegskrüppel namens Gustav Glaser. Hat mit erst siebzehn Jahren im ersten Weltkrieg ein Bein verloren, das arme Schwein. Ist morgens gegen fünf von hinten niedergeschlagen worden. Der Täter hat ihm dann den Schädel eingetreten.“ Von Kessel sah Jarek an. „Da Glaser keine Familie hatte und sogar auf dem Werksgelände wohnte, haben wir die Leiche erstmal verschwinden lassen. Wir haben den Mord auch nicht der Polizei gemeldet.“ Von Kessel machte eine Pause, sammelte sich.

„Zehn ermordete Mitarbeiter in knapp sechs Monaten, dazu noch zwei Tote durch Arbeitsunfälle. Ein Kranführer fällt vom Kran und ein Mann stürzt in ein Becken mit glühender Schlacke. Was braucht man mehr als Werksleiter?“ Von Kessel rieb sich mit den Händen über das Gesicht, als würde er sich waschen. Er lehnte sich zurück, zündete sich erneut eine Zigarette an, stellte sein goldenes Feuerzeug hochkant vor sich auf den Tisch. „So was bleibt natürlich auch dem Rüstungsministerium nicht verborgen. Die Produktion sollte eigentlich steigen, was im Krieg sowieso schon schwierig ist. Bei uns sinkt sie durch die Vorfälle.“ Er sah Jarek eindringlich an. „Schaffen wir es nicht, den Mörder zu stoppen, dann werden hier bald Köpfe rollen. Meiner zuerst.“ Er stieß das Feuerzeug um, welches mit einem lauten Geräusch auf dem Tisch zum Liegen kam.

Von Kessel stand wieder auf, ging zum Kamin, legte zwei Holzscheite nach. „Und hier kommen Sie ins Spiel, Kruppa. Trauen Sie sich zu, in der Sache die Ermittlungen zu übernehmen? Ein Serienmörder, das ist doch ganz nach Ihrem Geschmack, oder?“

Von Kessel kam langsam zurück zum Tisch, blies genüsslich eine dicke Rauchwolke in Richtung Decke. Jarek schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Doktor von Kessel, da muss ich leider passen. Aus einem Arbeitslager heraus, in Häftlingsuniform, kann ich nicht ermitteln. Und überhaupt, so eine Sache kann Monate dauern, Jahre.“

Von Kessel legte seine Zigarette in das Etui, ohne sie auszumachen. Rauch stieg kerzengerade empor. Er beugte sich nach vorn, sah Jarek an. „Sie bekommen natürlich für die Zeit der Ermittlungen einen Sonderstatus, Herr Kruppa. Dazu ein eigenes Büro, in dem Sie auch schlafen können, gute Verpflegung, Zivilkleidung. Und sollten Ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sein, dann garantiere ich Ihnen, werde ich mich für Sie einsetzen. Sollte keine Begnadigung möglich sein, dann werde ich Ihnen im Stahlwerk eine Stellung schaffen, die sicherstellt, dass Sie bis Kriegsende überleben.“ Er nahm noch einen tiefen Zug von der Zigarette, drückte die Kippe aus.

„Außerdem ist es in Ihrem eigenen Interesse, den Mörder zu finden, Herr Kruppa.“ Von Kessel lehnte sich zurück, öffnete sein Jackett, sah zu Schöppke herüber. „Ich bin kein Mitglied der NSDAP, Schöppke übrigens auch nicht. Im Rüstungsministerium stößt das vielen übel auf. Man hätte hier lieber ein Parteimitglied auf dem Chefsessel.“ Er nahm einen Schluck Wasser, fuhr fort. „Ich bin hier seit fast 20 Jahren, habe das Werk in Teilen mit aufgebaut, kenne jede Schraube. Mich auszutauschen, das würde für Probleme sorgen, die Produktion würde sinken. Und das mitten im Krieg. Aber, wenn die Morde weitergehen, dann wird man mich ersetzen, so viel ist sicher.“ Von Kessel senkte die Stimme, beugte sich wieder nach vorn zu Jarek. „Und wenn hier erstmal ein SS-Mann auf dem Chefsessel sitzt, Herr Kruppa, dann wird der lange Arm der SS von Warschau bis nach Duisburg reichen.“

Auch von Kessel goss sich jetzt einen Cognac ein. Schöppke sah neugierig zu Jarek herüber, schwenkte langsam sein Glas. Stille, nur das leise Knacken des Holzes im Kaminfeuer war zu hören. Von Kessel hatte recht. Der Krieg konnte noch Jahre dauern. Selbst mit von Kessels Hilfe würde er im Arbeitslager vielleicht nicht überleben. Eine Position außerhalb des Lagers könnte sein Überleben jedoch sichern. Würde ein SS-Mann die Werksleitung übernehmen, wäre das für ihn und viele andere Zwangsarbeiter ein Todesurteil.

„Mir ist klar, dass Sie mir den Täter nicht herbeizaubern können, Herr Kruppa. Aber wenn Sie uns nicht helfen, dann werden weitere Menschen sterben, und Sie wahrscheinlich ebenfalls. Fassen wir den Mörder, dann besteht für uns alle eine gute Chance, das Kriegsende zu erleben. Und so Gott will, haben wir dann noch ein paar gute Jahre.“ Von Kessel sah Jarek an, wartete auf eine Antwort. Man sah ihm seine Anspannung an.

Jarek atmete tief ein. „Gut, ich bin dabei. Aber ich habe Bedingungen. Haben Sie etwas zu schreiben?“ Von Kessel stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und kam mit einem Notizblock nebst Füller zurück. „Schießen Sie los, Herr Kruppa.“

„Ein zentral gelegenes Büro mit Schlafgelegenheit wurde bereits angesprochen. Ich muss mich unauffällig unter die Arbeiter mischen können. Neben Zivilkleidung benötige ich einen kompletten Satz Arbeitskleidung, Helm, Schutzbrille, Handschuhe, alles was dazugehört. Ich brauche auch ein Waschbecken, Spiegel, Waschlappen, Seife, Rasierzeug und so weiter.“ Von Kessel schrieb mit, nickte. „Gut, geht klar.“

„Außerdem brauche ich einen Ausweis, der mich als Mitarbeiter des Werkschutzes mit einer gewissen Autorität ausstattet. Einem Häftling beantwortet niemand Fragen.“ Von Kessel sah Schöppke an, der nickte: „Kein Problem.“ „Dann brauche ich einen kompletten Satz Pläne vom gesamten Stahlwerk, dazu farbige Reißzwecken.“ Von Kessel schrieb, Jarek überlegte weiter. „Das Büro braucht einen Telefonanschluss, ich muss dort jederzeit erreichbar sein. Sie müssen mich sofort informieren, sollte sich etwas ereignen.“

Jarek sah Schöppke an. „Gibt es so etwas wie einen Fahrdienst, den ich in Anspruch nehmen kann? Das Werk ist riesig. Auch ein Fahrrad wäre gut.“ Schöppke nickte „Ja, einen
Fahrdienst kann ich Ihnen organisieren, aber der ist nicht nur für Sie da. Da müssen Sie manchmal schon etwas warten. Aber, sollte ein weiterer Mord passieren, dann holen wir Sie sofort ab. Ein Fahrrad besorge ich Ihnen ebenfalls.“

Jarek fuhr fort: „Ich brauche eine zuverlässige Armbanduhr. Schreibzeug, Papier und Bleistift. Dazu einen roten Buntstift. Und Geld. Was kostet eine Schachtel Zigaretten momentan?“ Von Kessel blickte verwirrt. „Wollen Sie das Rauchen anfangen? Davon rate ich Ihnen ab. Die Schachtel kostet 40 Pfennige.“ Jarek lächelte. „Nein, nein, aber was verdient denn ein Arbeiter im Durchschnitt?“ „So zwischen 160 und 200 Reichsmark, je nach Stunden und Schichtzulage“, antwortete von Kessel. „Gut, dann brauche ich erstmal 200 Reichsmark in kleinen Scheinen.“ Er blickte zu von Kessel, der mit dem Schreiben zögerte, auf eine Erklärung wartete. „Viele Zeugen erinnern sich erst, wenn man ihnen etwas Geld zusteckt. Und ein kleines Trinkgeld oder eine Schachtel Zigaretten öffnet Münder und Türen, meine Herren.“ „Da haben Sie recht“, von Kessel notierte die Summe.

„Des Weiteren benötige ich sämtliche Ermittlungsakten der Polizei, mit allen Fotos, Skizzen, Zeugenbefragungen und was sonst noch existiert. Wenn möglich im Original.“ Von Kessel blickte zu Schöppke, der seine Stirn kräuselte. „Das wird nicht einfach. Aber ich kümmere mich morgen früh darum. Eventuell brauche ich da auch 200 Reichsmark, Herr Doktor von Kessel.“ Von Kessel verstand den Wink, nickte. Geld war nicht das Problem.

Jarek fuhr fort. „Gibt es eine Auswertung aller Schichtpläne seit dem Beginn der Mordserie? Ist feststellbar, ob es Personen gibt, die an allen Tagen, an denen es einen Mord gab, im Werk waren?“ Wieder blickten Jarek und von Kessel auf Schöppke. „Oha, da fragen Sie mich was. Ich werde das ebenfalls morgen im Lohnbüro anfragen, aber das kann ein paar Tage dauern. Ich kann nichts versprechen.“

„Was brauchen Sie noch, Herr Kruppa?“, fragte von Kessel. Jarek sah in an, ließ sich Zeit. „Ein Waffe, Herr Doktor von Kessel, eine Pistole.“ Von Kessel schwieg, sah irritiert zu Schöppke. Er lehnte sich zurück, antwortete: „Herr Kruppa, nicht mal der Werkschutz hat hier Schusswaffen. Die Männer von Schöppke haben Gummiknüppel und eine Trillerpfeife, sonst nichts. Nur Wehrmacht und SS sind auf dem Werksgelände bewaffnet. Ich kann Ihnen keine Pistole überlassen, es tut mir leid.“ Von Kessel schüttelte den Kopf, wartete auf Jareks Reaktion. Jarek fuhr unbeirrt fort. „Meine Herren, wir jagen einen Serienmörder, der mehrere Menschen mit bloßen Händen getötet hat. Der wird sich nicht so ohne Weiteres festnehmen lassen. Ich brauche eine Waffe“, sagte Jarek entschlossen. „Und es wäre dringend ratsam, den gesamten Werkschutz mit Pistolen zu bewaffnen. Ihr Kollege Wittek wäre dann vielleicht noch am Leben, Herr Schöppke.“

„Eventuell haben Sie da recht. Die Regel mit den Gummiknüppeln stammt noch aus der Vorkriegszeit“, antwortete Schöppke. „Die Mordserie hat ebenfalls etwas verändert, aber viele meiner Männer sind nicht an Schusswaffen ausgebildet oder trainiert. Das geht nicht auf die Schnelle.“ Von Kessel blieb hart. „Zivilkleidung, einen Werksausweis, Bargeld und dazu noch eine Schusswaffe. Weder das Rüstungsministerium noch die Duisburger Polizei würden zustimmen, dass wir einen Zwangsarbeiter mit Mordermittlungen beauftragen. Wenn Sie verschwinden, und rauskommt, dass wir Sie so ausgestattet haben, dann landen ich und Schöppke am Strick, Herr Kruppa. Ich besorge Ihnen einen Kampfdolch, Handschellen und einen Totschläger, aber eine Pistole ist nicht drin. Außerdem sind Sie doch Boxer, oder?“

Jarek schüttelte den Kopf. „Ich verstehe Ihre Bedenken. Aber mit einem Psychopathen, der nichts zu verlieren hat, steigt man nicht in den Ring. Mordermittlungen sind immer lebensgefährlich, und was haben Sie davon, wenn ich Leiche Nummer elf bin? Aber gut, wir fangen erst einmal an, und ich begnüge mich zunächst mit einem Dolch. Vergessen Sie die Handschellen.“ Von Kessel nickte. „Ist notiert. So etwas haben die sicher unten in der Kaserne.“ Er blickte auf: „Sonst noch etwas?“

„Nein, das war es erstmal. Mir fällt sicher noch etwas ein, ich gebe es dann durch. Wann soll ich anfangen?“, fragte Jarek. „Schöppke bringt Sie sofort in Ihr neues Büro. Da steht auch schon ein Feldbett. Alles Weitere bringt er Ihnen morgen früh gegen acht Uhr. Schöppke, denken Sie an Essensmarken, sodass Herr Kruppa sich jederzeit in einer der Kantinen oder am Verkaufswagen versorgen kann.“ Von Kessel stand auf, Jarek und Schöppke ebenfalls.

Von Kessel reichte ihm die Hand, anders als bei der Begrüßung. Sein Händedruck war fest, aber nicht übertrieben. „Normalerweise verzichte ich auf derlei Banalitäten. Man steckt sich nur mit Grippe an.“ Er lächelte, ließ Jareks Hand wieder los. „Aber dies ist ein besonderer Moment. Unser Schicksal liegt in Ihrer Hand, Herr Kruppa. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, aber vor allem auch Glück. Sie werden es brauchen.“ Er sah zu Schöppke herüber. „Schöppke wird Ihnen vierundzwanzig Stunden am Tag zur Verfügung stehen. Wenn Sie etwas brauchen, Unterstützung oder Ausrüstung, dann wenden Sie sich an ihn. Er wird zudem unser Kontaktmann sein und mich über alles unterrichten.“ Er begleitete die beiden zur Tür. „Wenn es zwingend notwendig ist, werden wir uns noch einmal treffen. Ansonsten sehen wir uns erst wieder, wenn der Fall geklärt ist. Meine Herren, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“ Sie waren schon aus der Tür, da rief er ihnen hinterher: „Ach, und Schöppke, gehen Sie mal zum Frisör, Sie sehen ja unmöglich aus.“

Schöppke und Jarek standen wieder in der Kabine des Paternosters, der langsam nach unten glitt. Das Licht in der Kabine war defekt und flackerte. Schöppke setzte sich seine Mütze auf, sah Jarek an. „Ich habe es Ihnen ja gesagt. Ab morgen keine Häftlingskleidung mehr. Aber dass Sie so ein Polizei-Ass sind und ab sofort de facto mein Vorgesetzter, da wäre ich nicht drauf gekommen“, lächelte er verschmitzt. „Davon hat der Doktor gestern kein Wort erwähnt. Dass Sie ein Büro brauchen und einen Schlafplatz, das hat er schon vorausgeplant. Ich habe Ihnen daher bereits gestern ein Büro unter der Hochstraße vorbereitet, da fahren wir jetzt hin. Morgen früh bringe ich Ihnen die gewünschten Sachen, mittags die Akten.“ Sie gingen durch die Halle Richtung Ausgang. „Womit werden Sie anfangen, Herr Kruppa?“ Jarek antwortete trocken: „Erst mal Aktenfressen. Und dann geht es auf die Jagd.“

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